Entstehungszeit: Leipzig
Neben der Vollkommenheit und Fülle der musikalischen Aussage, neben der erstrangigen formalen Ausgestaltung kennzeichnet die späten Leipziger Orgelwerke Bachs (BWV 533, 544, Präludium 546, 547, 552) ein weiteres Merkmal: sie spiegeln den jahrzehntelangen praktischen Umgang des Meisters mit der Orgel wider und liegen deshalb alle –einmal den hohen spieltechnischen Standard Bachscher Orgelmusik als Norm vorausgesetzt– sehr gut in der Hand (und auch in den Füßen!). Dies gilt in besonderem Maße für das h-moll-Werk, welches u.a. auch deswegen zum wohl meistgespielten großen Orgelwerk Bachs geworden ist. Vor allem das herrliche Präludium stellt aber an den Interpreten außerordentliche musikalische Ansprüche, wenn eine wahrhaft angemessene Wiedergabe gelingen soll: es bleibt letztlich ein sehr vielschichtiges, “elitäres” Stück Musik.
Bachs erste kompositorische Entscheidung, nämlich die unter seinen Orgelpräludien einmalige Wahl des langsamen, bis in 32tel-Werte zerklüfteten 6/8-Taktes, ist der Schlüssel für den außerordentlichen rhythmischen Reichtum des arabesken Satzgefüges, zumal er hier in einem gewissen, charakteristischen Maße auf die von ihm sonst so gern gepflegte egalisierend glättende Komplementärrhythmik verzichtet. Als Beispiel für das Gesagte seien der keimzellenhafte, nur einen Takt umfassende Eingangsgedanke (Takt 2 wiederholt ihn mit vertauschten Stimmen), die Fortspinnung des 3.Taktes
und die typische Ausformung der unmittelbar anschließenden Takte mit ihren interessanten synkopischen Verschränkungen zitiert:
(Besonders hingewiesen sei auf die originelle Rhythmisierung und Figurierung des Basses, der eigentlich nur ein Orgelpunkt auf H ist; sie wird als Bauelement in allen Parallelsituationen beibehalten).
Zur Form des Präludiums: Sie folgt –wohlüberlegt– einem einfachen Concertoprinzip. Im Gegensatz zum c-moll-Präludium BWV 546 lassen sich das Gedankengut des Tutti-Hauptsatzes und des auf ein einziges Thema beschränkten Solo-Seitensatzes auf keinerlei Verquickungen und Verschränkungen ein. Eine meisterliche Entscheidung, denn die hochkomplexe Struktur der Linien- und Satzdetails verlangt als Gegengewicht eine klare und übersichtliche Gesamtformung!
Den zitierten Beginn der Komposition spinnt Bach in außerordentlich kunstvoller Phrasenbildung zu einem 16taktigen Tuttisatz aus, der nach hochexpressivem Trugschluss mit leidensvoller Gebärde abkadenziert.
Das Thema des als Fugato gestalteten Seitensatzes lautet dann:
In der nach 10 Takten erreichten Molldominanttonart fis-moll setzt wieder die Musik des Hauptsatzes ein. Sie umfasst abermals 16 Takte, in ihrer zweiten Hälfte treten neue Fortspinnungselemente auf. Sie schließt mit den expressiven Kadenzen des ersten Males. Es folgt, ebenfalls in fis-moll und auf sieben Takte verkürzt, zum zweiten Male der Fugato-Seitensatz.
Fesselnd ist zu sehen, wie Bach in seinen zahllosen nach dem Concertoprinzip gestalteten Kompositionen immer neue Wege findet, um der an diesem Punkt nun unweigerlich drohenden Gefahr des Schematismus zu begegnen: der jetzt in Takt 50 zum dritten Male einsetzende Hauptsatzabschnitt bringt nicht wieder die Eingangsthematik, sondern zitiert aus dem beim zweiten Male nicht erwähnten Mittelglied des ersten Hauptsatzabschnitts (Sequenzen), leitet Takt 55/56 in die Durparalleltonart (D-Dur) über und bringt dann mit den das weitere Geschehen nachhaltig prägenden Seufzern
etwas ganz Neues ins Spiel! In Verbindung mit schon vorher verwendetem Material geht es über die Subdominanttonart e-moll (Takte 57-69) in die Dominante Fis-Dur (73) und damit noch einmal in den Seitensatz, der sich diesmal auf nur sechs Takte beläuft. Er führt in die Haupttonart zurück, in welcher, endgültig zum Schluße führend, die letzten sieben Takte des zweiten Hauptsatzabschnittes (nun nach h-moll transponiert) erklingen.
Der musikalische Gehalt dieses bewunderungswürdigen Stücks entzieht sich bei näherem Hinsehen einer schnellen Charakterisierung. Zunächst scheint “lyrisches Expressivo” das rechte Schlagwort zu sein. Doch spielt sich hier mehr ab; es kommt zu harten, leidenschaftlichen Verspannungen (vgl. die äußerst scharfe fünfstimmige Harmonik der Takte 14ff., der Parallelstelle 40ff., oder Takt 59/60!). Dramatisierend geradezu die über einen Aufschrei in der Dominante in Takt 56 erreichte Wendung nach Dur: so ausführlich sie in den sechs Takten davor auch vorbereitet worden war, sie bringt keine Wende. Die hier einsetzenden Seufzerfiguren (s.o.) lassen Klischeevorstellungen von “helleren Dur-Welten” unerfüllt, die leidvolle Gebärde wird nur intensiver, zumal überraschend schnell das D-Dur über eine chromatische Rückung in Richtung e-moll wieder verlassen wird.
Sehr variabel im Ausdruck ist –je nach harmonischer Situation– auch der Seitensatz mit der fast krampfhaft-klagenden Gestik. Auffällig der ausdrücklich kurze Schlußakkord des Stücks, von vielen Spielern einfach verlängert, um gängigen Hörerwartungen entgegenzukommen (vgl. das zu BWV 547 in diesem Zusammenhang Gesagte!)
Das Stück ist in einem sehr schön und sorgfältig geschrieben Autograph erhalten. Um Deutlichkeit der Wiedergabe, aber auch Richtigkeit des Ausdrucks in den Seitensätzen zu sichern, versieht Bach die begleitenden Achtel mit “Staccato”-Punkten. Rückschlüsse auf ähnlich gelagerte, ususgemäß nicht so penibel notierte Stellen lässt die Kürzung des zweiten Achtels in Takt 42 auf ein 32tel zu. Sie sorgt dafür, daß der betroffene begleitende Akkord die Hauptstimme nicht übertönt. In der vorangehenden Parallelstelle hatte Bach noch ein Achtel notiert, die bessere Notation muss ihm erst beim Anfertigen seiner Reinschrift gekommen sein, als die erste Stelle schon stand.
Es hat immer Bewunderung erregt, wie Bach in der Fuge aus dem wie beiläufig-profillos daherkommenden Thema
ein Stück Musik entwickelt hat, das als weiterführendes Pendant dem hochbedeutenden Präludium standhält.
Die Fuge gliedert sich in drei gleichlange Teile. Nach erster Exposition (1-11) durchwandert das Thema in zwei Einsatzpaaren e-moll und D-Dur, um sich dann mit einem letzten Einsatz im Pedal der Molldominanttonart (fis-moll) zuzuwenden. In Takt 28 beginnt der 30 Takte lange Mittelteil (manualiter), in dessen Verlauf sich die Wendung
(so erstmals, noch beiläufig T. 29) kontrapunktisch profiliert. Takt 59 setzt der ebenfalls 30taktige Schlußteil ein, der dramatisierende Belebung durch ein fanfarenhaft von oben nach unten steigendes Motiv erfährt, das sich nun dem Thema dauernd beigesellt:
In den Takten 73-78 gliedert ein themenfreies Zwischenspiel den Ablauf; in ihm kommt noch einmal das Kontrapunktmotiv des Mittelteils (s.o.) zu Wort. Dann folgt die Schlußsteigerung, machtvoll angetrieben von den unablässigen Gängen des Pedals, das nach dreimaligem Zitat des Themas noch einmal das Fanfarenmotiv bietet.
Die Versuchung, die eigentümliche Thematik der Fuge (ziel- und ruheloses Wandern, dann machtvoller Einsatz, Eingriff aus der Höhe) symbolisch-theologisch zu deuten, besonders auch im Zusammenhang mit der vorangegangenen, beredten Klage des Präludiums, übt einen starken Sog aus. Doch wenn etwas an Orgelmusik aus sich selbst heraus sprechen kann, dann ist es dieses hervorragende Werk!
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- Zuletzt aktualisiert: 18. Mai 2014
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