Entstehungszeit: Arnstadt (535a); Mühlhausen, Weimar (?; 535)
Für dies ausgezeichnete, phantasievolle, ausdruckstark und zielstrebig gestaltete Jugendwerk lassen sich drei Entwicklungsstadien nachweisen. Die in Bachs eigener Handschrift erhaltene Frühfassung stammt wahrscheinlich aus der Zeit vor 1707/08, die tiefgreifende Neugestaltung des Präludiums (in zwei Etappen) und die verbessernde Umgestaltung der Fuge kamen in Mühlhausen, eher wohl erst in frühen Weimarer Jahren zustande. Diese Quellenlage erlaubt uns einen unschätzbaren, hochinteressanten Einblick in Bachs Komponistenwerkstatt, in die Entwicklung seines handwerklichen Könnens. Ein detaillierter Vergleich zwischen Früh-, Zwischen- und Endfassung führte an dieser Stelle zu weit. Wir betrachten daher zunächst die üblicherweise zu hörende Endfassung, gehen aber anschließend noch kurz auf die Frühfassung BWV 535a ein.
Am Beginn des Präludiums steht ein weiträumiger und spannungsvoller musikalischer Entwicklungsbogen, der – sozusagen in einem einzigen Atemzug – bis Takt 14 reicht. Keimhafter Ausgangspunkt ist eine latent mehrstimmige, in tiefer Lage einsetzende Sechzehntellinie, die sich ab Takt 3 in virginalistisch gebrochene, und damit bewegte Akkordik entfaltet. Die immer weiter aufwärts strebende Bewegung und Linienführung des Ganzen fällt bis Takt 6 nach jedem einzelnen Anlauf wieder zum tiefen G hinab (angedeuteter Orgelpunkt, ab Takt 3 vom Pedal übernommen). In Takt 7 intensiviert sich der Manualpart zur Vierstimmigkeit, bei gleichzeitigem Absinken der Gesamtbewegung. Das Pedal schweigt hier, um in Takt 10, als nunmehr fünfte Stimme, erneut mit dem tiefen G einzusetzen, nicht aber, um den Orgelpunkt fortzusetzen, sondern um nun – ein sehr schöner Einfall! – das Kopfmotiv des Fugenthemas zu Gehör zu bringen. Auf der Dominante kommt diese Eingangspartie schließlich zur Ruhe. (Notenbeispiel dazu siehe unten bei der Besprechung der Frühfassung BWV 535a).
Ein virtuoser, tokkatenhafter Manual-Sololauf in Zweiunddreißigsteln stiebt nun in Takt 14 auf. Nach rasantem Aufschwung durch drei Oktaven bis zum hohen c mündet er in eine flirrende Kette figurierter Akkordsequenzen
Bach führt diese Folge chromatisch durch eine volle (!) Oktave abwärts. Dazu muß gesagt werden, daß diese chromatisch-enharmonischen Akkordrückungen damals neuartig waren und das Ohr des Hörers nicht so ermüdeten wie heute. In der Frühfassung hatte diese Partie noch gefehlt, in der Zwischenfassung standen hier weitaus diatonischer orientierte Figurierungen. Es wäre sehr zu überlegen, ob man bei heutigen Wiedergaben wieder auf diese Zwischenfassung zurückgreifen sollte; sie wirkt auf heutige Ohren wesentlich interessanter. Nachdem Bach über weitere verminderte Septakkorde (Takte 31/32) zum Dominantton d vorgedrungen ist (das Pedal übernimmt ihn dann bis Takt 36 wieder als getupft-unterbrochenen Orgelpunkt), inszeniert er – die Zweiunddreißigstelbewegung beibehaltend – einen grandiosen Aufschwung, der schließlich in majestätische Fünfstimmigkeit ausklingt. Dergleichen war in der Orgelmusik bis dahin nicht zu hören gewesen! Die Fünfstimmigkeit des Schlußes korrespondiert übrigens aufs schönste mit der ganz anders gearteten der Einleitung.
Die vierstimmige Fuge (Tempoangabe “Allegro”) verarbeitet folgendes, markantes Thema:
Die charakteristischen Tonwiederholungen sind typisch für Themenbildungen der Jahre ca. 1690-1710 (norddeutsche Orgelmusik und ihr Einflußbereich!). Abgesehen von einer Schwachstelle (Takte 51-54) ist die Fuge in ihrer Endfassung ein gut gearbeitetes, sich sehr lebendig entwickelndes Stück Musik. Sie gliedert sich in drei Teile: Exposition + drei Abschlußtakte in g-moll (1-25) / Mittelteil zunächst durch Aussetzen des Pedals, dann Ausdünnung zur Zweistimmigkeit klanglich reduziert, schließlich Wiedereinsatz des Pedals (Thema) mit reizvoller Wende in die Parallele B-Dur / nach etwas abrupter Überleitung Beginn des Schlußteils in d-moll (Thema im Alt, T.55), zunehmend freier gestaltet, Pedal übernimmt mit letztem Themeneinsatz in g-moll die musikalische Führung und mündet in dramatisch aufwärts drängendes Solo; das Manual übernimmt mit neapolitanischer Wendung und führt die Komposition mit knappem, rasant-effektvollem Tokkatenschluß zuende (Takte 72-75).
Frühfassung BWV 535a
Das Präludium ist gegenüber der 43taktigen Endfassung nur 21 Takte lang und wirkt in der Rückschau wie ein musikalischer “Embryo”. Eingang und fünfstimmiger Schluß sind quasi kurze Skizzen des später Entfalteten. Der Eingang (“Passagio” tituliert) bleibt einstimmig. Man vergleiche:
Der knappe Mittelteil ist völlig anders. Er bringt einen schlichten Akkordauffüllungseffekt in punktierten Rhythmen und Akkordbrechungen, die Vorbild für die virginalistischen Akkordbrechungen des späteren Eingangsteils abgegeben haben könnten.
Die Fuge (fragmentarisch überliefert, der Schluß fehlt) ist in der Anlage mit der Endfassung identisch, aber die gesamte Tonsprache ist wesentlich hölzerner und blasser. Die Überarbeitung in BWV 535 stellt einen enormen Fortschritt an kontrapunktischer und musikalischer Geschmeidigung dar.
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- Zuletzt aktualisiert: 28. September 2015
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