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Entstehungszeit: Weimar (Arnstadt?)

BWV 550 ist eines jener relativ früh entstandenen Orgelwerke Bachs, denen eine gerechte Würdigung vielfach versagt bleibt. Dafür gibt es allerdings Gründe. Der wichtigste ist, daß die Spielvorschrift für die Fuge (“alla breve e staccato”) in der über hundert Jahre lang meistbenutzten Edition (Peters) keine Aufnahme gefunden hat. Ergebnis: eine klanglich breiige, im Tempoeindruck zu biedere Wiedergabe.

Auch das Präludium stieß auf Unsicherheiten: zum einen ließ man sich von der 3/2-Taktvorgabe nicht zu adäquat locker fließendem Spiel anregen, zum anderen irritierte die von Bach doch wohl bewußt gewählte Beschränkung auf Elemente norddeutscher Schreibart – das wurde als Zeichen stilistischer Uneigenständigkeit und Unreife mißverstanden. Auf der Grundlage solchen Erlebens konnte es dann zu abwertenden Einschätzungen wie derjenigen Hermann Kellers kommen, und es nimmt nicht mehr wunder, daß das Werk –scheinbar ja nicht so bedeutend und wirkungsvoll– zum Studienobjekt für den Orgelunterricht degradiert wurde, wo es seiner schwierigen Pedalstellen in der Fuge wegen dann allerdings “gut zu gebrauchen” war.

In letzter Zeit bahnen sich Neubesinnung und angemesseneres Verständnis an. Wir sehen BWV 550 heute wieder als das, was es wirklich ist: ein klar gebautes, musikalisch zügiges, klanglich reizvolles und in der Fuge organistisch virtuoses Werk, dessen geschlossener Gesamteindruck überzeugt. Die sorgfältige, motivisch konzentrierte tonsetzerische Arbeit, die alles Wuchernde, jugendlich Unbesonnene meidet, ist Indiz dafür, daß das Werk durchaus nicht so früh angesetzt werden muß, wie es mancher aufgrund der “stilistischen Uneigenständigkeit” gern täte. Am meisten für sich hat die Hypothese, daß Bach die Komposition in seinen früheren Weimarer Jahren mit der Vorgabe “auf Manier der Norddeutschen” geschrieben hat – allerdings ohne sich selbst dabei ganz verleugnen zu können. Dafür sprechen auch die Klaviaturumfänge, mit denen Bach rechnet: sie stimmen mit den Verhältnissen überein, mit denen Bach nach heutigem Wissensstand in Weimar zu tun hatte.

Das Präludium orientiert sich wie gesagt am norddeutschen Orgelstil – in der Diktion sehr ausgeprägt, in formaler Hinsicht um einiges weniger. Kaum zufällig scheinen die Beziehungen zum G-Dur-Präludium von Nikolaus Bruhns (1665-1697), das damals auch im mitteldeutschen Raum gut bekannt war. Man findet es z.B. in jener “Möllerschen Handschrift”, die wahrscheinlich der Bachvetter zweiten Grades Johann Bernhard Bach d.Ä. (1676-1749) angelegt und in die Bach eigenhändig die Arnstädter Frühfassung von BWV 535 eingetragen hatte. In diesem Bruhnsschem Präludium erscheint in Takt 10 folgendes kleines Pedalsolo:

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In Bachs Präludium begegnen wir an exponierter Stelle der ersten Hälfte dieses Gedankens als wörtlichem Zitat wieder. In den 3/2-Takt versetzt, beginnt mit ihm in Takt 11 die Pedalstimme:

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Die ersten drei Töne des Bruhnszitates (Wechselnoten g-fis-g) wertet Bach nun zu einer Art motivischer Keimzelle auf, aus der er das ganze Stück hervorgehen läßt. So die einleitenden Manualtakte, die dem Pedaleinsatz bis Takt 11 vorausgehen:

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Die absteigende Skalenpartie (im Beispiel mit “x” markiert) findet sich übrigens ebenfalls in Bruhns’ Präludium; mit ihr beginnt dort das Stück:

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Motivisch dominant bleibt bei Bach aber die erste Wendung. Im weiteren Verlauf spinnt er sie zu folgenden Gedanken aus:

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Darüber hinaus finden sich lediglich einige Skalenausschnitte und Halte- bzw. Füllnoten. Es herrscht also größte Ökonomie, ohne daß Monotonie aufkäme! Zum Ablauf des Präludiums: Einleitende Manualpartie / Beginn des Pedalsolos - Zwischeneinwurf des Manuals - Fortsetzung des Pedalsolos, das in G-Orgelpunkt einmündet darüber dann imitatorischer Aufbau des Manuals / Hauptteil (31-59) mit dialogisch ineinanderwirkendem Musizieren von Manual und Pedal, das nach Ausweichung ins parallele e-moll über breit auskomponierte Schlußkadenz wieder nach G-Dur zurückkehrt / Wechsel in den C-Takt, in dem Bach, nach Art eines norddeutschen Akkordrezitativs gestaltend, einen zur Fuge überleitenden Halbschluss herbeiführt.

Ein typisch norddeutsches Stilelement ist das “Auf-der-Stelle-Treten” aller Oberstimmen zu schrittweise bewegtem Baß (Takte 9/10). Reizvoll die hemiolischen Bildungen (= zwei 3/2-Takte zu einem großen 3/1-Takt zusammengefasst) an abschließend gliedernden Punkten, die der Organist dem Hörer deutlich machen soll (Takte 9/10, 20/21, 38/39, 44/45, verdeckter: 57/58).

Das alla-breve-e-staccato-Thema der Fuge schlägt springlebendige Töne an, disponiert Musik von blendend gelaunter Viertel- und Achtelmotorik:

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Fast die gesamte Kontrapunktik der Fuge stützt sich auf Vorgaben aus dem Thema: pochende und springende Viertel, Achtelbewegung vorzugsweise in Terz-, Quart- und Quintsprüngen (Akkordfigurierungen). Daneben spielt noch der auftaktige, ermunternde und antreibende Rhythmus

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eine wesentliche Rolle.

Auf die zur Dominante führende Exposition (interessant der regelwidrig real imitierende erste Pedaleinsatz!) folgt ein zwei-, dann dreistimmiger Manualabschnitt, hierauf –etwa im Zentrum der Fuge– wieder eine Partie mit Pedal, aber in locker bleibender Dreistimmigkeit. Anschließend kommt nochmals das Manual solo zu Wort. Die glänzende Schlußpartie ist dann wieder vierstimmig pedaliter. Wir begegnen hier also jenem formalen Dispositionsschema, das viele meisterliche Orgelfugen Bachs charakterisiert. Sein überlegter und gekonnter Einsatz ist ein Grund mehr, das Werk nicht zu früh zu datieren.

14 Takte vor Schluß beginnt eine prachtvolle “Stretta”. Als “quinta vox” (fünfte Stimme) setzt über dem bisherigen Sopran noch ein letztes Mal das Thema ein (allerdings setzt Bach diese Fünfstimmigkeit nicht fort und lässt den ursprünglichen Sopran verstummen); dann rattern alle Stimmen gleichzeitig in Achtelakkordketten aufwärts (eine virtuose Stelle!), verweilen einen Takt lang mit der zweiten Hälfte des Themenkopfes “jauchzend” auf dominantischer Höhe, sequenzieren eine Oktave wieder abwärts, und es folgt der letzte Aufschwung der Schlußakkorde.

Hermann Kellers Vorwurf, die Fuge sei harmonisch dürftig, ist ungerechtfertigt. Im Gegensatz zu anderen früheren Orgelfugen, in denen Bach kaum einmal den Bereich Tonika – tonal beantwortende Dominante verlässt, erklingt hier das Thema auch in D, e, h (mit Fis) und C. In der zweiten Manualepisode moduliert Bach auch –mittels imitatorischer Spiele mit dem Themenkopf– nach a und d. Es wird demnach der gesamte, üblicherweise dazugehörende Tonraum abgeschritten.

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by-sa

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