Entstehungszeit: Weimar
Das im deutschen Sprachraum übliche Wort “Passacaglia” ist verballhorntes Musikitalienisch. Es stammt ursprünglich aus Spanien (“Pasacalle”) und meinte ein zum Spaziergang oder Umzug auf der Straße gespieltes Gitarrenlied oder -stück. Die Franzosen übernahmen den Begriff als “Passacaille”, die Italiener transkribierten zu “Passacaglie” (woraus, als falscher Singular, unser “Passacaglia” abgeleitet wurde) oder formten zu “Passacaglio” um. Bis zur Ununterscheidbarkeit eng verwandt mit der Chaconne/Ciacona, hat die Formgattung der Passacaglia (also Variationen zu einem Ostinato-Thema) in Italien, Frankreich und Deutschland eine komplizierte, z.T. sich gegenseitig beeinflussende Entwicklungsgeschichte durchlaufen und ihre abschließende Ausprägung in der ersten Zeit des Hochbarock erfahren.
Im einzelnen gelten für die hochbarocke Passacaglia folgende Charakteristika: Ausgangspunkt des Geschehens ist das vorwiegend im Baß präsente, ostinat (= unablässig) wiederholte Thema, das als kompositorisches Fundament einer Variationenreihe von den Begleitstimmen so kontrapunktiert wird, daß ein einfalls-, abwechslungsreich und überzeugend gestaltetes Ganzes entsteht. Gelegentlich erscheint das Thema auch in der Ober- oder in den Mittelstimmen. Metrum ist vorzugsweise ein Dreiertakt. Als eher vage, graduelle Abgrenzung zur Ciacona/ Chaconne (für welche im übrigen die genannten Kriterien gleichermaßen gelten) läßt sich sagen, daß die Passacaglia ein ernsteres, gemesseneres Wesen an den Tag legt, häufiger in moll steht, sich strenger ans vorgegebene Thema hält (“Ausnahmen bestätigen die Regel!”) und daß sie mehr den Tasteninstrumenten zugedacht ist.
Da die Passacaglia schon im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts als veraltet galt (der alles absorbierende und verändernde Siegeszug der italienischen Konzertform machte ihre harmonischen und formalen Grenzen deutlich), hat sich Bach nur sehr wenig mit der Ostinatovariation befaßt (in der französischen Opernmusik blieb die Chaconne noch mehrere Jahrzehnte weiter eine gefragte Form). Allerdings sind Bachs beide Beiträge zum Genre, die d-moll Chaconne für Solovioline und die Orgelpassacaglia, nicht nur weiterentwickelnde Höhepunkte in der Geschichte des Genres, sondern zugleich auch Höhepunkte seines eigenen Schaffens. (Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die hübsche Chaconne im Concerto G-Dur für Orgel BWV 592.)
Welche formalen Einfälle und Maßnahmen Bachs bewirken die monumentale Steigerung der vorgefundenen Formgattung und entbinden eine musikalische Geschehensfülle, wie sie das Genre bislang nicht kannte? Hier fällt als erstes die Weiträumigkeit des – übrigens wohl erstmals zu Beginn solo vorgetragenen – Themas auf:
Es bildet einen vollständigen, achttaktigen Linienzug. Demgegenüber galt noch bei Bachs unmittelbaren Vorgängern und Vorbildern Buxtehude und Pachelbel knappe Viertaktigkeit als Norm (vgl. deren Orgelciaconen und -passacaglien). Dazu trat (strenger durchgeführt bei Buxtehude, locker-periodenhaft geformt bei Pachelbel) die regelmäßige Wiederholung aller Variationen. Bach verzichtet darauf zugunsten echter, auskomponierter Achttaktigkeit. Noch entscheidender für die Gesamtwirkung der großartigen Komposition ist aber, daß Bach auf 21 Variationen des Themas eine große Fuge über die erste Themenhälfte folgen läßt! Das schafft nicht nur neuen, steigernden Spielraum, sondern bewirkt vor allem eine befreiende Erweiterung des harmonischen Horizonts, der bisher vom Passacaglienthema eng umrissen gewesen war.
Bei aller komplexen Meisterschaft des Gestaltungsablaufs, bei allem Reichtum an innerem Gehalt sind Passacaglia wie Fuge in ihren Strukturen leicht erfaßbare Musik. Darum im folgenden nur knapp gefaßte Hinweise als erste Orientierung:
Das Pedal trägt wie gesagt das Thema solo vor. Die erste und zweite Variation leben von statischer, wehmütig verschleierter Vorhaltsharmonik. Unablässig kommt folgendes Akkordmotiv zum Einsatz:
Die dritte Variation bietet ausdrucksvoll und kantabel gestaltete Achtelgänge, wobei Bach zunächst ein aufsteigendes, später ein abwärts fließendes Motiv (as-g-f-es) locker durchimitiert.
In der vierten und fünften Variation dominiert der Rhythmus
zunächst als imitatorisch durchgeführtes, aufwärtsschiebendes Sekundmotiv, dann – in der fünften Variation – mit einem Sprungmotiv in Oktaven bzw. Terzen, das (erstmals!) auch variierend auf das Thema im Baß übergreift:
Die sechste, siebente und achte Variation lebt von fließender Sechzehntelbewegung. Zunächst wird ein Motiv von vier aufwärtsstrebenden Sekundschritten durchgeführt, dann folgt seine Umkehrung, schließlich die gleichzeitige Gegeneinandersetzung von Auf- und Abwärtsbewegung bei zunehmender Dichte und harmonischer Verhärtung des Satzes. Das Thema erscheint im Pedal wieder in Normalgestalt. Mit diesen drei Variationen ist es zur ersten Steigerung gekommen, die sich in beflügeltes Weiterstreben löst: die neunte Variation unterhält uns mit einem aufgelockerten Satzgefüge über das Motiv:
In gleicher Diktion erklingt auch das Thema im Pedalbaß. Die nächste, zehnte Variation erweist sich als solistisches Sechzehntel-Perpetuum-Mobile des Soprans, von den übrigen Stimmen generalbaßmäßig im Rhythmus
begleitet. In der elften Variation wird diese Sechzehntellinie plötzlich zum Alt, über der sich, ein eindrucksvoller Überraschungseffekt, das Thema als neuer Sopran ergeht! Die zwölfte Variation bestätigt den Aufstieg des Themas in den Sopran triumphal. Im nun wieder vollen, vierstimmigen Satz (Var. 11 war ja nur zweistimmig) bringen majestätisch abwärts rollende Treppenschritt-Kontrapunkte den zweiten Abschnitt (also die Variationen 9 bis 12) zum Abschluß.
In der folgenden Partie (Variationen 13 bis 15) setzen sich die Auflockerungstendenzen, wie sie sich in den Variationen 9, 10 und 11 schon einmal manifestierten, nachdrücklicher durch: Bach läßt nun das Pedal vollends schweigen und setzt – dreistimmig manualiter – das Thema in den Alt. Verbindlicher Orientierungspunkt für alle Stimmen, das Thema mit inbegriffen, ist das Motiv
Die nächste, 14. Variation ist nur noch zweistimmig. Das Thema wird in der linken Hand zu einem begleitenden Arpeggio ausfiguriert, dem die rechte Hand gegenläufig “widerspricht”. In der 15. Variation ist das musikalische Geschehen zur Einstimmigkeit ausgedünnt – wir vernehmen nur noch eine weiträumige, aufwärts entflatternde Sechzehntelfiguration, in die die Noten des Themas exakt eingewebt sind.
Gegen diese klanglich delikate Partie setzt Bach einen scharfen, dramatischen Kontrast: Variation 16 bringt, während das Thema sich wieder energisch in seiner Grundform im Pedal zu Wort meldet, aggressive Achtel-Akkordschläge auf dem dritten Taktteil, die zuvor durch An- und Überbindungen kaskadenartig aufgestaut werden:
In der 17.Variation löst sich dieser Stau zu erregter, geradezu aufgepeitschter Bewegung in Sechzehnteltriolen voll “stammelnder” Tonrepetitionen. Stark bewegte, innere Aktivität prägt auch die nachfolgende 18.Variation mit Vorhalten, dem dringenden Rhythmus
und lebhaften Achtelauftaktbildungen im Pedalthema.
Die letzten drei Variationen (19 bis 21) bewegen sich wieder ausgeglichener und gleichmäßiger, doch ihr Sechzehntelfluß führt zu keiner entspannenden Lösung – die kreisende, immer mehr zu insistierenden Orgelpunktbildungen neigende Wechselnotenmotivik, die Ausweitung zur Fünfstimmigkeit – das alles führt zu einem “Sich-Festfressen”, einer monumentalen und gleichzeitig anspannenden Verhärtung. Auf diese meisterhaft gestaltete Weise macht Bach die anschließende
Fuge zur musikalisch zwingenden, schlüssigen Notwendigkeit. Sie wird aus einem Doppelthema entwickelt, dessen eine Stimme die erste Hälfte des Passacaglia-Themas aufgreift:
Als weiterer beibehaltener Kontrapunkt tritt vom zweiten Einsatz ab folgende, bewegt wogende Sechzehntelfigur hinzu:
Die völlig regelkonforme (Permutations-)Fuge führt in Takt 30 in die Paralleltonart Es-Dur (Manualepisode bis Takt 53). Nach der unablässigen Einbindung in die vom Passacaglienthema vorgegebene Tonart c-moll wirkt dieser Übertritt in den Es-Dur-Bereich wie eine wundersame Entlastung und erquickende Befreiung, unterstützt noch von der hier gepflegten Dreistimmigkeit!
In Takt 53 mündet das Geschehen in g-moll, das Pedal setzt mit dem Hauptthema ein. Nach einer im wesentlichen noch immer triomäßig, locker geführten Partie wird Takt 72 zum ersten Male wieder c-moll erreicht. Und von hier an setzt Bach in einem großartigen, weiträumigen Aufschwung zu einer Schlußsteigerung an, die kaum ihresgleichen hat: Sie strebt über 47 Takte hin gleich zwei Höhepunkten zu. Der erste wird nach dramatisch vorbereitendem, tuschhaftem Manualdoppeltriller über Sechzehntelpedal mit dem Themeneinsatz im Sopran erreicht (volle Vierstimmigkeit, T. 105), der zweite, genial überraschende ereignet sich in Takt 119, wo die Musik, vom neapolitanischen Sextakkord wie getroffen? – erleuchtet? – innehält. Eine achttaktige, plagal auskomponierte Coda mündet in breites, siebenstimmiges Adagio, in welchem diese unvergleichliche Komposition ausklingt und zur Ruhe kommt.
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